Pennys Wochenrückblick Folge 119: Alm-Apokalypse Now - Tantentaschentücher des Todes
Hier endet sie, die Weihnachtstrilogie um Max. Wer die ersten beiden Geschichten aus 2005 und 2006 noch einmal lesen möchte, um sich zu orientieren, klickt hier:
Teil 1 (runterscrollen bis 22.12.05)
Teil 2
„Max!“
Die Stimme meiner Mutter kam von weit her. Ich roch Salz. Eine Menge Salz.
Überall war Dunkelheit, irgendwo in der Ferne des Raums war ein verbittertes Schluchzen zu vernehmen.
Wo zur Hölle bin ich?
„Max, bist du da?“
Ich versuchte zaghaft, meiner Mutter zu antworten, doch ich bekam nicht einen einzigen Laut heraus. Meine Stimmbänder fühlten sich an, als hätte Andre Rieu mit seinem Geigenstab an ihnen einen neuen Schneewalzer einstudiert. Meine Lippen brannten wie Feuer.
„Bitte sag doch was!“, flehte meine Mutter.
Irgendwo wieder lautes Schluchzen.
„Ich…bin hier“, flüsterte ich gequält.
Meine Zunge fühlte sich an, als wenn ich einen Kaktus abgeleckt hätte. Was zum Teufel war hier los?
Erinnerungsfetzen zuckten durch mein Hirn. Tante Frieda hatte mit der Tuba an die Tür geklopft, während ich mir panisch das Snowboard umschnallte und aus dem Fenster fliehen wollte. Ich war so ein Narr. Ich kam keinen Kilometer weit, da erwischte mich das kalte und golden glänzende Metall mitten an der Stirn. Danach nur noch Dunkelheit…die bis jetzt andauert.
„Oh, Max, wie froh bin ich, deine Stimme zu hören. Wo sind wir?“
Ich rappelte mich auf, unter mir befand sich eiskalter Fliesenboden. Mein Schädel dröhnte und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich immer noch mein Snowboard trug.
„Ich hab keine Ahnung, Mum, ich….mein Kopf, Tante Frieda….sie hat mich voll erwischt und uns vermutlich hierhin gebracht. Was ist mir Dir?“
Meine Mutter antwortete, es war ihr anzumerken, wie sehr sie sich schämte.
„Ich…bin ohnmächtig geworden beim Anblick, wie du in Tante Friedas Tuba...ich dachte unser aller Leben sei zu Ende.“
Vielleicht ist es das bereits, dachte ich verwirrt.
„Wo sind wir? Und vor allem, warum hat sie…“
In dem Moment blendete eine Supernova meine Augen, als das Licht eingeschaltet wurde. Als sich meine vor Schreck geweiteten Augen an die gleißende Helligkeit gewöhnt hatten, sah ich wo wir uns befanden. Es war der Kellerraum der Berghütte, ein etwa sieben Mal sieben Meter großer Raum. Ich sah die Kette, die von einem meiner Snowboardstiefel an das Heizungsrohr gekettet war. Ich sah meine Mum und meinen Dad auf der anderen Seite des Raums, wie sie aneinander kauerten, mein Vater schluchzend, meine Mutter mit zusammengekniffenen Augen. Und ich sah Onkel Hubert auf der rechten Seite des Raumes, ebenfalls angekettet.
Ich folgte seinem ruhigen und stoischen Blick in die Mitte des Raumes…wo etwas wollig-kariertes lag.
„Grundgütiger, was zur Hölle ist hier geschehen…?“
In der Mitte des Raums lag Tante Friede mit dem Gesicht nach unten. Sie bewegte sich nicht. An Ihrem Rücken lag ihre ramponierte und nur ziemlich grob gereinigte Tuba. Ich konnte Blut an ihr entdecken, Blut, welches aus meiner Stirn stammt.
„Herrje ist sie etwa…was ist hier los, verdammt.“
Onkel Hubert fand seine Sprache wieder, er sprach seinen ersten kompletten Satz seit
Ostern '99. Damals umfasste er meine Schultern im Garten meiner Eltern und meinte:
„Die Eier sind im Garten versteckt, Max. Und wenn Du einen Moment unbeobachtet bist, würde ich an deiner Stelle laufen. Lauf weg soweit du kannst. Halt erst an, wenn du in einem anderen Land bist.“
Ich hielt ihn damals für vollkommen bekloppt, besoffen vom Eierpunsch. Jetzt, wo ich hier liege, gefesselt an mein Snowboard, weiß ich: er wollte mir nur helfen.
„Das hier ist das Vermächtnis eurer Tante.“
Meine Mutter riss die Augen auf.
„Ihr was?“
„Ihr Erbe an uns. Ich weiß nicht, ob es zum Plan gehört, dass sie dort tot in der Mitte des Raums liegt, aber Fakt ist: Tante Frieda konnte niemanden von uns leiden. Deswegen hat sie diesen Raum gebaut. Ständig hat sie hier mit Werkzeug herumhantiert und als ich einmal wagte zu fragen, was zum Teufel sie da eigentlich treiben würde, durfte ich mir an einen Stuhl gefesselt zwei Stunden lang Tuba-Techno-Interpretationen anhören.“
Ich wollte gerade etwas darauf entgegnen, als es plötzlich begann zu rauschen. Das Geräusch hatte seinen Ursprung in einem Fernseher, der an einer Wand hing, auf dem plötzlich eine quicklebendige Tante Frieda erschien. Sie zwirbelte ihren Damenbart und begann ihren Singsang des Terrors.
„Hallo, Drecksbande. Da seid ihr ja. Kann’s also losgehen, was? Nun. Ihr fragt Euch sicher, warum der alte Kratzemantel Euch im Keller eingesperrt hat. Die Antwort ist nicht schwer: ihr habt es nicht besser verdient. Eure ständigen Lästereien sind mir nicht entgangen. Meint ihr etwa, ich habe eure abschätzigen Blicke nie bemerkt, wenn ich euch „Hey Baby“ auf meiner Tuba vorgespielt habe? Denkt ihr wirklich, die Ohrenstöpsel sind mir entgangen? Ich mag zu Lebzeiten halb blind gewesen sein, blöd war ich nicht. Und du Max? Hast dich über meinen Reinigunstick echauffiert. Ich sag’s dir im Guten, wer keinen sauberen Mund hat, wird nie eine Frau finden. Dreckige und von Keimen übersäte Mundwinkel sind der Tod einer jeden Beziehung, merk dir das.
Dann Hubert: Herrgott, was bist du bloß für ein Waschlappen gewesen, dein Leben lang. Hast Dich nie gewehrt, nie einen Ton gesagt. Bist immer nur fliegenden Aschenbechern ausgewichen, obwohl du wusstest: irgendwann treff ich dich doch.
Und Brigitte? Dir war eh nicht mehr zu helfen. Hast ja selbst das Salz vergessen. Nebenbei, dein Ehemann ist eine Katastrophe für sein Geschlecht. Ich wette meinen Mantel darauf, dass er immer noch herumheult, hab ich Recht?“
Wie zum Beweis schluchzte mein Vater erneut.
„Nun, ich habe mir gedacht, ich mache euch ein besonderes Weihnachtsgeschenk, jetzt, wo doch klar ist, dass Mäxchen nicht bereit ist, mit mir auf Tubatournee zu gehen. Die Sache ist nämlich die, dass ihr hier versauert…es sei denn, ihr unternehmt etwas dagegen. Max muss beginnen. Er sollte mal in seine Hosentasche schauen. Viel Spaß und….fröhliche Weihnachten. Wir sehen uns in der Hölle.“
Hier endete das Band. Onkel Hubert und meine Mum schauten mich an, während mein Vater es vorzog, weiterhin in Tränen auszubrechen. Ich wollte nicht in meine Tasche greifen, weil ich Angst hatte, was ich darin finden würde. Aber wir würden hier niemals rauskommen, die Kette war ziemlich massiv.
Ich griff also in meine Tasche und fühlte….etwas weiches. Meine Finger zuckten vor Schreck und ich schrie kurz auf. War es das, was ich dachte? Ich griff angeekelt erneut in meine Hosentasche. All meine Albträume wurden wahr. Tante Frieda hatte mir eins ihrer Mundwinkeltöter-Taschentücher in die Hose gestopft. Sie hatte etwas drauf geschrieben.
Tja Max, nun lernst Du, was Hygiene bedeutet. In Deinem Mundwinkel befindet sich der Schlüssel zu der Kette, die Dich gefangen hält. Ich hab ihn Dir dort eingenäht und Du kommst nur dran, wenn Du das Taschentuch benutzt. Es ist mit einer ätzenden Reinigungsflüssigkeit beträufelt. Du kannst natürlich auch so versuchen, den Schlüssel zu bekommen, aber mit dem Tuch ist es schneller…und gründlicher!
War ich wirklich wach? Habe ich das tatsächlich gelesen?
Fünf Minuten später kauerte ich mit blutendem Mund auf dem Boden. Mein Mundwinkel war das Tor zur Hölle, aber ich grinste trotzdem, ich hatte den Schlüssel in der Hand. Von der Last der Kette befreit ging ich in die Mitte des Raums und verpasste Tante Frieda einen leichten Tritt. Selbst wenn sie noch gelebt hätte, ihr Kratzemantel war schusssicher, sie hätte nichts gemerkt. Ich erinnerte mich an die letzten beiden Sätze auf dem Taschentuch des Todes:
„Du gehst zur Tuba und spielst Jingle-Bells. Du hast drei Versuche, es fehlerfrei zu spielen, dann fällt ein weiterer Schlüssel und ein Hinweiszettel aus einer Kachel im Raum heraus.“
Ich schlich wie von Sinnen auf die Tuba zu und hob sie auf. Das Mundstück war mit getrocknetem Tante-Frieda-Speichel bedeckt. Mir drehte sich der Magen um. Hier gab es nichts, um das abzuwischen.
Erst beim dritten Versuch fiel der Schlüssel auf die Fliesen, das erste Mal musste ich zwischendurch irre lachen, so surreal kam mir das Ganze vor, beim zweiten Versuch musste ich mich schon zu Beginn der zweiten Strophe übergeben.
Auf dem Zettel stand, dass der Schlüssel für Onkel Hubert sei. Darunter die nächste Aufgabe…
„Ich soll was?“, keifte meine Mutter. Vater konnte nicht aufhören zu weinen.
„50 Eier essen…in 30 Minuten….und mit Salz. Darauf besteht sie…hier steht: Damit du es nie wieder vergisst, Schwesterherz.“
Es gab eine kurze Diskussion mit ihr und die Frage, was ihr lieber wäre: Ewig in diesem Keller zu hocken oder einige Zeit übel riechende Flatulenz.
Und so begann meine Mum, gesalzene und gekochte Eier in sich hineinzuschaufeln, die in einer Schale bereitstanden. Aus Leidenssolidarität feuerte ich sie mit weiteren Weihnachtsliedern auf der Tuba an. Ich war gerade bei der dritten Strophe von „Oh Tubabaum“ und meine Mutter beim 48. Ei angelangt, ihr ganzer Mund war eine riesige Masse Eigelb als ich von hinten ein Geräusch vernahm, von flüsternder und jahrhundertealter Wolle verursacht. Es war Tante Frieda, die im Türrahmen stand und ihr ekliges Grinsen zeigte.
„Tja, Drecksbande, nicht schlecht. Die halbe Stunde ist rum. Niemand kann 50 Eier essen. Ist ein Zitat aus „Der Unbeugsame“. Aber immerhin hat Max einiges gelernt. Dass die Tuba doch kein so schreckliches Instrument ist. Und dass Du mittlerweile auch ein Taschentuch selbst benutzen kannst. Ich bin so stolz auf meinen Neffen. Ist es nicht schade, dass du deine neu gewonnen Fähigkeiten niemals ausprobieren wirst?“
Ich weiß nicht genau, wann ich aufgehört habe zu schreien, nachdem Tante Frieda die harte Stahltür hinter sich zugezogen hat.
Ich weiß lediglich, dass uns danach die Dunkelheit empfing und ich schlief ein mit dem Geruch von Tantenspeichel in der Nase und den Klängen der Trompeten von Jericho.
Das jüngste Gericht und Tante Frieda holt die Tuba raus?
Aber ganz bestimmt….